Wir hatten als Familie ein wunderschönes Wochenende. Antje und ich waren in Berlin, die Kinder hatten eine richtig gute Zeit bei den Großeltern. Am Sonntagabend, kurz vor dem Einschlafen, überkam mich einer dieser seltenen, kostbaren Momente: vollkommene Dankbarkeit. Ich war einfach nur glücklich, frei von Sorgen, frei von Gedanken an das Gestern oder Morgen. Das Wochenende war so schön, dass es fast leuchtete.

Monday not funday

Ein Tag zum Vergessen. Im Rückblick hätte ich es ahnen können – auf zu viel Licht folgt manchmal Schatten. Vielleicht war es ein schlechtes Omen, dass wir beim Frühstück noch gemeinsam über Garfields Abneigung gegen Montage philosophierten.

Es dauerte nicht lange, da gerieten die Kinder heftig aneinander. Unsere Jüngste trug am Ende blaue Flecken davon. Solche Momente sind die schwersten – zu sehen, wie sie die geballte, ungefilterte Wut abbekommt. Sie hat das nicht verdient. Niemand hat das.

Wir bleiben ruhig – wusa

Doch wir haben diesmal gut reagiert, und das dürfen wir auch anerkennen. Wir haben sie getröstet, versorgt und gleichzeitig unseren Sohn aufgefangen – ruhig geblieben, zugehört, Frust weggeatmet. Es hat Kraft gekostet, aber wir waren stolz auf uns.

Bis zum Mittag blieb alles ruhig. Dann – eine Kleinigkeit beim Essen, die ausreichte, um die Stimmung kippen zu lassen. Böse Worte, fliegende Dinge. Wir bemühten uns, ruhig zu bleiben. Es fiel schwerer, aber Chapeau an die Eltern im Hause Lasner: Wir haben es mit ruhigem Ton durch die Situation geschafft.

Tipping-Points

Bis zu dem Moment, in dem die Lärmschutzkopfhörer mit voller Wucht auf unsere Tochter geworfen wurden. Antje warf sich noch dazwischen, doch ohne Erfolg. Die Drohungen hörten nicht auf, und irgendwann mussten wir eingreifen – entschieden und leider auch mit körperlichem Einsatz.

Wir haben ihn gepackt, aus dem Wohnzimmer gezogen, während er sich wehrte. Geschimpft habe ich dabei nicht, ich war ruhig – aber sehr klar, sehr hart. Es war kein schöner Moment, aber wir haben uns wieder beruhigt.

Am Nachmittag wollten wir unser kleines Familienprogramm starten: Ein Besuch in der Bibliothek, danach Spielplatz, und zum Abschluss ein Eis für alle. So der Plan. Beim Eis sind wir nie angekommen.

Auf dem Spielplatz kam es zu einer unschönen Situation. Ein Mädchen hat unseren Sohn beim Klettern versehentlich mit dem Fuß im Gesicht getroffen. Für ihn war das jedoch kein Versehen. Er hat die Situation völlig falsch gedeutet – und zurückgeschlagen.

Wir verließen den Spielplatz Hals über Kopf. Ich schämte mich. Das Mädchen tat mir leid. Ich war traurig – und wütend auf Mats.

Fehlannahme

Aber war ich wirklich zu recht auf ihn wütend? Nein! Ich hatte einen Denkfehler.

Ich hatte angenommen, mein Sohn hätte ein genauso schönes Wochenende gehabt wie ich. Ich ging davon aus, dass alles gut war – und habe mich geirrt. Ich habe nicht bedacht, dass er vielleicht Ängste durchgestanden hat, während wir in Berlin waren. Bei Oma und Opa ist es schön – aber auch weniger vertraut, weniger berechenbar.

Ich habe nicht erkannt, wie sehr er sich vielleicht angestrengt hat, um stark zu wirken, um sich nichts anmerken zu lassen. Ich habe nicht gesehen, wie erschöpft er war. Und dabei hat er es uns deutlich gezeigt – zweimal sogar. Doch wir haben es nicht verstanden.

Stattdessen haben wir ihn auf einen Spielplatz gezerrt – eine Umgebung, die selbst für neurotypische Erwachsene mitunter zu laut und chaotisch ist.

Für jemanden mit autistischer Wahrnehmung muss das wie ein Albtraum sein. Wie ein Orchester, das gleichzeitig Gabeln über Tafeln quietschen lässt, während man in gleißendes Licht blickt. Ja, da haben wir ihn hingeschleppt.

Was bedeutet „autistische Wahrnehmung“?
Menschen im Autismus-Spektrum nehmen ihre Umwelt oft intensiver und ungefilterter wahr als neurotypische Menschen. Geräusche, Licht, Berührungen oder Gerüche können als schmerzhaft, überwältigend oder verwirrend erlebt werden. Reize, die für andere unbedeutend wirken, können für Autist:innen eine enorme Belastung darstellen.
Diese besondere Art der Wahrnehmung ist weder „falsch“ noch „krank“ – sie ist einfach anders. Und sie verdient unser Verständnis.


Ein symbolisches, comicartiges Bild zeigt einen Jungen mit Kopfhörern, der sich sichtlich überfordert fühlt. Seine Augen sind geschlossen, seine Stirn gerunzelt. Der Hintergrund ist ein grelles, chaotisches Muster aus bunten Sternen, Zacken, Kreisen und Linien in intensiven Farben – eine visuelle Darstellung sensorischer Reizüberflutung. Das Bild macht sichtbar, wie laut, grell und überfordernd sich die Welt für autistische Menschen anfühlen kann.

Temple Grandin (Autistin, Wissenschaftlerin, Autorin):

„Ich sehe die Welt in Details, die andere übersehen. Ein Geräusch, ein Licht, eine Berührung – alles kann viel intensiver sein.“

Donna Williams (Autistische Autorin):

„Manchmal ist es, als wäre die Welt zu laut, zu hell, zu viel – alles gleichzeitig.“

Das Buch, das mir die Augen öffnete – schon wieder

Bis zum Abend hin war ich zwar nicht mehr wütend – aber die Traurigkeit und das Unverständnis darüber, wie der Tag gelaufen war, blieben.

Bis ich kurz vor dem Schlafengehen – ziemlich genau 24 Stunden nach meinem Hochgefühl am Sonntag – in Der Junge, der zu viel fühlte von Lorenz Wagner folgende Zeilen las:

„Das Baby schläft
Mutter öffnet die Tür
Licht fällt auf die Wiege
Sie nimmt das Baby, streichelt über seinen Kopf.
Ihre Haut ist rau vom Waschen, damit er ja keinen Keim abbekommt.
Sie sagt die liebsten Worte.
Sie desinfiziert die Hände. Und wechselt die Windel.
Das Baby weint.


„Du schläfst.
Es knallt.
Es gleißt.
Donnerecho im Kopf. Lichtstiche in den Augen.
Das Licht schießt in die Zunge, du schmeckst den Schmerz.
Es stampft auf dich zu. Deine Welt wackelt.
Es reißt dich nach oben am Kopf. Schmirgelschmerz.
Ihre Stimme schmerzt, schrillt bis in die Fingerspitzen.
In der Nase brennt es, bis in den Kopf hinein.
Am Popo Schmirgelschmerz.
Du weinst.“

Später beschreibt Wagner, wie der Vater des Jungen – ein renommierter Neurowissenschaftler – herausfand, dass Autisten ihre Umwelt um ein Vielfaches intensiver wahrnehmen als neurotypische Menschen.

Ein paar Seiten zitiert Wagner Henry Makram:

„Wir sagen, Autisten fehlt es an Empathie. Nein. Uns fehlt sie. Für die Autisten.“

Aufgrund dieser Erkenntnis fühlte ich mich jetzt nicht mehr traurig sondern einfach nur schlecht. Ich hatte den ganzen Tag diesen entscheidenden Fehler gemacht: Ich hatte es versäumt, mich wirklich in Mats hineinzuversetzen. Ich bin nur von mir ausgegangen.

Ich dachte, er hätte – wie ich – ein schönes Wochenende gehabt. Eines, das ihm Kraft gibt und Fröhlichkeit schenkt. Doch ich habe ihn in dieser Annahme auf den Spielplatz, in eine eher feindliche Umgebung gebracht, anstatt ihm Sicherheit und Ruhe zu geben.

Deshalb lese ich Bücher wie Der Junge, der zu viel fühlte.
Weil ich hoffe, dass ich eines Tages die Empathie entwickeln kann, die mein Sohn so dringend braucht – und auch verdient.

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