In den Medien häufen sich gerade wieder die Schlagzeilen: „Die Inklusion an Berliner Schulen ist gescheitert“ (Tagesspiegel). „Inklusion? Gescheitert.“ (Süddeutsche Zeitung). Gleichzeitig lese ich in Elternchats, wie Familien verzweifeln, weil sie keinen Diagnoseplatz für ihr Kind finden. Die Inklusionsdebatte ist zurück in der Öffentlichkeit aber sie bleibt oft abstrakt. Was sie für Familien wie unsere bedeutet, wird selten erzählt. Lange dachte ich, Autismus sei etwas, das wir in der Familie lösen müssen. Ein Thema, das bei uns liegt – bei unserem Kind, bei uns als Eltern. Wir tun alles, um Teilhabe und Chancengleichheit herzustellen: mit endlosen Terminen, Anträgen, Therapien. Und meist richten wir dabei den Blick nur auf uns selbst. Aber ich denke: Es reicht.
Es reicht nicht mehr, nur unser Verhalten zu reflektieren. Es reicht nicht mehr, immer weiter zu kämpfen, während die Strukturen sich nicht bewegen. Wir müssen anfangen, über das System zu reden. Über Politik. Über Verantwortung. Dieser Text ist meine Meinung. Und er ist politisch. Aber bevor ich das erkläre, fange ich bei mir an, genauer gesagt: bei meinem Sohn.
Vor fünf Jahren bekam er die Diagnose einer sozial-emotionalen Entwicklungsstörung. Zwei Jahre später kam ADHS dazu. Wieder ein Jahr später wurde Asperger-Autismus diagnostiziert.
Jede dieser Diagnosen war im Grunde eine Reaktion auf die Schwierigkeiten, die er im Alltag hatte. In der Kita, in der Schule, mit anderen Kindern und auch mit uns. Jahr für Jahr stellten wir uns die Frage: Was braucht unser Sohn wirklich? Und was können wir besser machen?
Also begannen wir zu lernen. Wir lasen Bücher, schauten Dokumentationen, hörten Podcasts. Wir veränderten unser Verhalten und stellten uns neu auf ihn ein. Wir probierten Therapien aus, gaben Medikamente, testeten verschiedene Erziehungsstrategien. Wir versuchten alles, um ihm das Leben leichter und seine Probleme kleiner zu machen.
Tatsächlich ist es nicht einfacher geworden. Ich würde sogar behaupten, dass es immer schwerer wird. Je mehr wir investieren, desto weniger bekommen wir als Familie zurück – nüchtern und wirtschaftlich betrachtet. Emotional ist jeder von uns in den letzten Jahren enorm gewachsen. Wir lieben unseren Panda* und akzeptieren ihn mit allem, was dazugehört. Und er uns. Aber darum soll es an anderer Stelle gehen.
Gemessen an den ganz konkreten Aufwänden fällt die Bilanz ernüchternd aus: Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden für Anträge, Behördentermine, Arztbesuche, Therapien und gefahrene Kilometer ist enorm. Ich lese von Familien, in denen meist die Mutter ihren Beruf vollständig aufgeben muss, um das Kind zu pflegen. Wir selbst arbeiten in Teilzeit und hätten ohne das Homeoffice noch größere Einschränkungen hinnehmen müssen.
Was ist ein Panda?
Im Zusammenhang mit Pathological Demand Avoidance (PDA), einer besonderen Ausprägung des Autismus-Spektrums, hat sich der Begriff „Panda“ als liebevoller Spitzname etabliert.
Er symbolisiert die sanfte, sensible und gleichzeitig entschlossene Art vieler Kinder mit PDA. Pandas wirken ruhig, sind aber sehr aufmerksam. Sie ziehen sich zurück, wenn es ihnen zu viel wird, und reagieren stark auf gefühlte Kontrolle oder Druck.In vielen Familien ist „Panda“ zu einem positiven, wertschätzenden Bild für Kinder mit PDA geworden
Was ist PDA? siehe: PDA Society – What is demand avoidance?
Wir passen uns an. Und das System nicht
Was ich eigentlich sagen will: Wir haben uns in all den Jahren immer weiter angepasst. Unser Sohn sowieso. Als Asperger- und PDA-Autist ist er quasi ein Anpassungsprofi.
Wir haben viel gegeben – Zeit, Geld, Energie und emotionale Ressourcen. Oft mehr, als wir eigentlich zur Verfügung hatten. Doch je mehr wir uns anpassen, desto deutlicher wird: Es reicht nicht. Und es wird auch nie reichen. Nicht, weil wir versagen, sondern weil das System uns im Stich lässt.
Wir lesen und erleben, wie Familien finanziell ins Abseits geraten. Wie hochqualifizierte Frauen ihren Beruf aufgeben müssen. Wie die Grundrechte autistischer Menschen übergangen werden.
In Bezug auf unseren Sohn sehen wir, wie weit die Realität von echter Inklusion entfernt ist. Es gibt keine einzige autismusgerechte Schule in unserem Landkreis und darüber hinaus. Dabei leben in diesem Einzugsgebiet über 200.000 Menschen. Hybrider Unterricht, Schulbegleitung und andere notwendige Unterstützungen müssen wir jedes Mal erneut beantragen, begründen, rechtfertigen und erkämpfen.
Ich gönne es jedem von Herzen, wenn der Alltag leicht von der Hand geht. Für uns ist jeder Schritt ein Kraftakt und oft einer gegen Widerstände
Es ist nicht unser Sohn, der zu viel ist. Es sind die Strukturen, die zu wenig bieten.
Autismus ist kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem
Das, was wir erleben, ist kein Einzelfall. Kein tragisches Familienschicksal. Kein privates Problem.
Autismus ist nicht einfach nur ein medizinisches Etikett. Autismus ist politisch. Und das müssen wir endlich laut sagen. Denn überall dort, wo Menschen an Strukturen scheitern, nicht gesehen oder gehört werden, sprechen wir über Politik.
Ein Kind, das von der Schulpflicht in den autistischen Burnout getrieben wird oder einfach “nur” überfordert wird, weil es keine passenden Unterstützungsangebote gibt, ist ein politisches Thema. Eltern, die verzweifelt um eine Diagnose, einen Therapieplatz oder schlicht um Verständnis kämpfen, ebenfalls. Ein Erwachsener, der keinen Arbeitsplatz findet, weil er nicht ins System passt, macht die politischen Versäumnisse besonders deutlich.
Autismus ist eine Behinderung. Aber Behinderung beginnt dort, wo der eine dem anderen Steine in den Weg legt, statt ihm die Hand zu reichen.
Diese Debatten darüber, wer Leistungsträger und wer angeblich eine Last ist machen mich wütend.
Wir leben in einer Gesellschaft, die verhindert, dass viele Menschen mit Behinderung ihren Beitrag leisten können. Und zwar ausgerechnet durch diejenigen, die in diesen Kategorien denken und entscheiden.
Dabei geht es nicht nur um Barrieren – es geht auch um all das, was wir als Gesellschaft verpassen: Perspektiven, Talente, Sichtweisen, Lösungen. Wir reden viel über Potenzial, aber wir verhindern aktiv, dass Menschen mit Behinderung ihres entfalten können.
Oft heißt es, das Problem sei individuell: „Das Kind ist halt schwierig“, „Die Eltern sind zu empfindlich“, „Es liegt an der Erziehung“, „Der muss sich einfach mehr anstrengen.“ Doch die wahren Barrieren liegen selten in den Menschen selbst. Sie liegen im System. In einem Bildungssystem, das auf Gleichförmigkeit statt auf Vielfalt setzt. In einem Gesundheitssystem, das chronisch überlastet ist. Ein System, das Menschen bestenfalls in Schubladen steckt und sie schlimmstenfalls komplett übersieht.
Diese Ungerechtigkeit wird noch deutlicher, wenn man sich anschaut, wie mühsam bereits der Weg zur Diagnose ist. Nur ein Beispiel: Unser Kinderpsychiater ist 80 Kilometer von unserem Wohnort entfernt. Er musste seine Warteliste in diesem Jahr schließen – wegen völliger Überlastung.
Ich habe weiter oben von den Dingen gesprochen, die man sich erkämpfen muss. Was glauben Sie, wie gut das funktioniert, wenn man noch gar keine Diagnose hat? Viele Familien erleben eine jahrelange Odyssee. Sie kämpfen mit Fehldiagnosen, vergeblichen Therapieversuchen, Selbstzweifeln und der schmerzhaften Frage: Was stimmt nicht mit uns? Erst nach einem langen, schweren Weg fällt irgendwann das Wort „Autismus“. Und dann beginnt der nächste Kampf. Es geht um passende Unterstützung, um Anerkennung, um Teilhabe.
Das ist kein persönliches Versagen. Das ist ein strukturelles Problem. Ein politisches.
Politik entscheidet über Ressourcen, über Sichtbarkeit, über Zugänge. Und darüber, welche Geschichten erzählt und welche verschwiegen werden. Autistische Stimmen werden übergangen. Eltern stigmatisiert. Fachkräfte allein gelassen.
Fakten zur Lage autistischer Menschen (Auswahl)
Diagnose
- Insbesondere im Erwachsenenbereich ist mit erheblichen Wartezeiten zu rechnen (1-2 Jahre), aktuell (23.07.2024) sind die Wartelisten nahezu überall geschlossen (Autismus Deutschland e.V. – Diagnostik)
- Bei der überwiegenden Mehrzahl der Autismustherapiezentren bestehen Wartezeiten von einem Jahr und länger (Ärzteblatt 2024)
Schule
- Inklusion an deutschen Schulen ist gescheitert (Tagesspiegel 2025, SZ 2025, Welt 2025)
- Jeder fünfte Schüler mit Autismus wurde schon einmal von der Schule ausgeschlossen, einige monatelang. (zitiert nach GEW 2024, basierend auf einer Umfrage des Bundesverbands Autismus Deutschland 2016)
Arbeit
- Die Arbeitslosenquote für Menschen mit hochfunktionalem Autismus (HFA) oder Asperger-Syndrom (AS) liegt bei etwa 40 % (Vogeley, K. (2020). Autismus und Beruf – Herausforderungen und Chancen).
- Trotz überdurchschnittlicher Bildungsabschlüsse ist die Arbeitslosenquote unter autistischen Menschen etwa dreimal höher als in der Allgemeinbevölkerung. (Vogeley, 2020)
Familie und Gesundheit
- Familien, die Kinder mit Behinderung betreuen, sind überdurchschnittlich armutsgefährdet – 75 % liegen unter dem durchschnittlichen Familieneinkommen. (Lebenshilfe.de, WBIS-Expertise 2009 nach Hohmeier & Veldkamp 2004)
- In Deutschland übernehmen 87 % der Mütter die Pflege ihrer behinderten Kinder (Kinderpflege-Studie 2023, Pflege.de)
Vernetzung ist politisch und notwendig
Doch es geht auch anders. Wenn wir politisch für Autismus eintreten, kämpfen wir für Gerechtigkeit. Für eine inklusive Bildung, die wirklich alle mitdenkt. Für ein Gesundheitssystem, das nicht nur diagnostiziert, sondern begleitet. Für eine Gesellschaft, in der Unterschiedlichkeit nicht als Störung gilt, sondern als Teil menschlicher Vielfalt.
Autismus ist politisch. Weil es um Menschenrechte geht. Um Würde. Und um das Recht, so zu sein, wie man ist und trotzdem dazuzugehören.
Diese Erkenntnis ist für mich noch recht neu, und ich versuche, meinen Umgang damit zu finden. Es ist deshalb schwer zu sagen, was das für mich konkret bedeutet. Aber ich spüre, was mir hilft – und das ist auch etwas zutiefst Politisches: Wir sind nicht allein. Wir können uns vernetzen, mit anderen Betroffenen. Wir können uns organisieren, in Selbsthilfegruppen, in Vereinen und mit gemeinsamer Stimme sprechen. Wir können uns gegenseitig bestärken, die Rechte unserer Kinder einzufordern.
Ja, das ist ein Kampf. Doch kämpfen gehört längst zu unserem Alltag.
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