Ich lese gerade das Buch „Der Junge, der zu viel fühlte“ von Lorenz Wagner. Es erzählt die Geschichte des renommierten Hirnforschers Henry Markram und seiner Beziehung zu seinem Sohn Kai, einem Jungen mit der Diagnose Asperger-Autismus. Ein Buch, das ich wärmstens empfehlen kann – es ist wirklich großartig.

Auf der Suche nach der richtigen Schule
Besonders möchte ich auf eine Passage eingehen, in der Henry und seine Frau auf der Suche nach einer geeigneten Schule für Kai sind. Kai hat bereits viele Schulen besucht, ist aber bisher überall gescheitert – ein Schicksal, das viele betroffene Eltern nur zu gut kennen. Schließlich stoßen sie auf eine Schule, die sich scheinbar auf die Bedürfnisse autistischer Kinder spezialisiert hat.
Das Kapitel beschreibt eine Szene, in der die Eltern ein Aufnahmegespräch mit dem Schulleiter führen. Henry erzählt von ihren bisherigen Versuchen mit fortschrittlichen Ansätzen wie Montessori oder Neurofeedback. Der Schulleiter hingegen kontert selbstbewusst, dass an seiner Schule die heute stark umstrittene ABA-Methode (Applied Behavior Analysis) praktiziert wird, die sich bewährt habe. Kinder würden durch Regeln, Belohnung – aber auch durch Bestrafung – lernen. Im Kern basiert diese „Therapieform“ auf dem Prinzip des operanten Konditionierens. Autistische Kinder werden dabei behandelt, als müsste man sie abrichten.
Info: Was ist ABA?
ABA steht für „Applied Behavior Analysis“ und ist eine verhaltenstherapeutische Methode, die auf Belohnung und Bestrafung basiert. Ziel ist es, durch gezieltes Training gewünschtes Verhalten zu verstärken und unerwünschtes Verhalten zu reduzieren. Die Methode ist umstritten – vor allem deshalb, weil sie oft ohne Berücksichtigung der inneren Bedürfnisse des Kindes angewendet wird.
Zweifel und Bauchgefühl
Wagner beschreibt eindrücklich, wie unwohl sich die Eltern dabei fühlen. Sie wählen diesen Weg nicht aus Überzeugung, sondern aus Mangel an Alternativen – aus Verzweiflung und Ratlosigkeit. Er schreibt: „Sie hatten ihre Zweifel […]. Aber gut, sie waren keine Pädagogen, sie mussten vertrauen. Sie standen vor dem Dilemma, vor dem alle Angehörigen stehen. Es gab so viele Formen von Autismus, so viele Therapieansätze. Wie also sich verhalten? Wem glauben?“ Auch das dürfte vielen Eltern sehr vertraut vorkommen.
Drei Sätze, die alles ändern
Im Laufe des Kapitels wird klar: Kai wird an dieser Schule nicht glücklich. Die Eltern bereuen, nicht auf ihr Bauchgefühl gehört zu haben, und Kai wechselt erneut die Schule. Henry spürt instinktiv, dass dieser Ansatz nicht der richtige ist – auch, weil er im Grunde andere, fortschrittlichere Wege bevorzugt. Auf seiner Suche nach geeigneter Unterstützung ist er zuvor auf eine Expertin namens Lynda Thompson gestoßen. Sie hat ihm drei einfache, aber tiefgreifende Regeln für den Umgang mit Autisten mitgegeben. Sie sind leicht zu verstehen, universell anwendbar und vor allem für Erwachsene ein klarer Kompass:
Sei nett zu ihnen.
Sei nett zu ihnen.
Sei nett zu ihnen.
Alltag mit Anspannung – das Mittagessen
Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen: Diese drei Sätze treffen den Nagel auf den Kopf. Konflikte mit meinem Sohn verlaufen meist in zwei Richtungen. Ein Beispiel aus meinem Alltag: das Mittagessen.
Ich bereite in meiner Mittagspause das zuvor abgesprochene Essen zu. Oft bin ich dabei gestresst, weil ich später in die Pause konnte als geplant, und weil ich aus Erfahrung weiß, wie herausfordernd diese Situation sein kann.
Mein Sohn kommt von der Schule nach Hause. Zum Glück ist er dort derzeit gut aufgehoben und fühlt sich wohl. Dennoch kommt er oft angespannt an – der Unterricht fordert ihn, die Übergänge von Schule über Heimweg bis nach Hause kosten Energie, er hat Hunger, und sein Nervensystem weiß längst: Das Mittagessen ist eine potenziell heikle Phase.
Nett bleiben wirkt Wunder
Ein Konflikt entsteht meist dann, weil ihm das Essen nicht schmeckt. Es riecht vielleicht ungewohnt, die Nudeln sind zu weich – oder er hat schlicht keine Lust auf das, was eigentlich abgesprochen war. Wenn ich in diesem Moment einfach nur nett bleibe, läuft alles gut. Ich biete Alternativen an, lasse mich von seiner Anspannung nicht mitreißen und spreche ruhig und gelassen. Die Folge: Er kann sich regulieren, wendet passende Strategien zur Frustbewältigung an – und am Ende sind wir beide stolz, wie gut wir das gemeistert haben.
Wenn ich jedoch nicht nett bin – etwa weil ich mich angestrengt habe, weil wir es doch so besprochen hatten, oder weil ich es unfair finde, dass das Essen weggeschmissen wird – dann kippt die Situation. Ich zeige meinen Ärger, und der Konflikt eskaliert. Ein Becher fliegt, scharfe Worte fallen. Ich reagiere – nicht besonders weise – mit einer Sanktion, etwa Fernsehverbot (Anmerkung: Ich will davon wegkommen, aber es ist ein Reflex in der Not). Es wird laut, es wird unangenehm, und am Ende sind wir beide unglücklich darüber, wie es gelaufen ist.
Warum es schwer ist, nett zu bleiben
Warum fällt es so schwer, einfach immer nett zu bleiben? Diese Frage stelle ich mir oft nach einem Streit. Wäre es wirklich so schlimm gewesen, ihm etwas anderes anzubieten? Meist liegt der Grund in einem einfachen Gedanken: Ich habe mich angestrengt – und er ist nicht dankbar. Er hält sich nicht an die Regeln. In solchen Momenten denke ich mehr an mich und meine Erwartungen als an ihn und seine Lage.
Und genau das ist der Kern des Problems. Ich stecke dann im Tunnel meiner eigenen Bedürfnisse, meiner Erschöpfung. Mein Sohn wiederum ist in seinem eigenen Tunnel – chaotisch, greller, lauter. Und er hat keine Orientierung. Wenn ich mich nicht freundlich verhalte, helfe ich ihm nicht, herauszufinden. Im Gegenteil – ich stoße ihn tiefer hinein.
Überforderung statt Fehlverhalten
Was ich daraus gelernt habe: Konflikte mit autistischen Kindern verlaufen selten auf Augenhöhe. Sie eskalieren schnell – nicht, weil das Kind „schwierig“ ist, sondern weil es sich unverstanden und in die Enge getrieben fühlt. Und ehrlich gesagt: Auch viele Konflikte mit dem Umfeld verlaufen stets in dieselbe Richtung – Konfrontation.
Ob nun im Kindergarten, in der Regelschule oder in der Tagesgruppe: Oft haben wir erlebt, dass Regelkonformität wichtiger war als das individuelle Empfinden unseres Sohnes. In mehreren Situationen wurde sogenanntes „Fehlverhalten“ eher sanktioniert als hinterfragt. Das erinnerte mich manchmal an ABA – eine Methode, bei der Verhalten geformt wird, anstatt Bedürfnisse zu erkennen. Ich hatte nicht selten den Eindruck: Wer nicht spurt, muss korrigiert, aber nicht gefragt werden.
Was Kinder wirklich brauchen
Doch autistische Kinder – und eigentlich alle Kinder – brauchen keine Dressur. Sie brauchen Verständnis, Geduld und einen wohlwollenden Blick auf ihr Inneres. Sie brauchen Erwachsene, die bereit sind, die Perspektive zu wechseln. Die Regeln hinterfragen, wenn sie nicht allen gerecht werden. Und die akzeptieren, dass Fortschritt manchmal langsam kommt – in kleinen Schritten oder in Pausen. Nicht im Sprint.
Drei einfache Regeln – eine starke Haltung
Deshalb sollen Lynda Thompsons drei Regeln zu meinem inneren Kompass werden:
Sei nett zu ihm.
Sei nett zu ihm.
Sei nett zu ihm.
Das ist keine pädagogische Methode – es ist eine Haltung. Es heißt nicht, dass alles erlaubt ist. Aber es heißt, dass ich als Erwachsener zuerst fragen sollte: Was braucht mein Kind gerade? Und nicht: Was macht es falsch?
Wenn mir das gelingt – an den guten Tagen und auch an den schweren – dann merke ich: Es funktioniert. Denn Beziehung entsteht nicht durch Gehorsam, sondern durch Vertrauen.
Oder, wie Henry Markram es sinngemäß sagte:
„Wenn du ein Kind verändern willst, musst du zuerst herausfinden, wie du dich selbst verändern kannst.“
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