Disclaimer: Ich bin nicht autistisch. Ich maße mir nicht an, zu behaupten, dass ich weiß, wie es ist. Ich weiß es nicht. Was ich versuche, ist lediglich zu beschreiben, wie ich es wahrnehme. Damit ich es besser nachvollziehen kann, versetze ich mich in die Perspektive meines Sohnes. Sehr wahrscheinlich ist alles viel intensiver. Sehr wahrscheinlich gibt es tausend Dinge, die sich meiner Beobachtung entziehen. Ich weiß nicht, wie es ist, aber ich möchte verstehen, wie es sein kann. Deshalb mache ich das.


Aus der Perspektive meines Sohnes

Stell dir vor, es ist ein ganz normaler Tag. Du bist gut gelaunt. Du spielst dein Lieblingsspiel oder liest ein tolles Buch. Du bist voll in der Welt des Spiels oder des Romans gefangen. Es ist so dicht und atmosphärisch, dass du völlig darin aufgehst. Du willst dich einfach von der Geschichte treiben lassen. Die Welt um dich herum ist komplett vergessen.

Plötzlich reißt dich etwas aus dieser warmen Umarmung der Fantasie heraus. Es ist dein Vater. Er will, dass du Hausaufgaben machst.

Hausaufgaben… allein der Gedanke daran. Die endlosen Versuche, die Buchstaben und Zahlen genauso auf das Papier zu bringen wie sie abgedruckt sind. Die Schmerzen in der Hand vom verkrampften Schreiben. Die endlosen Reihen von A, B, C und 1, 2, 3.

Du denkst auf einmal an die Schule, die für dich untrennbar mit Hausaufgaben verbunden ist. Das grelle Licht. Der Lärm. Die tausend Geräusche, die alle gleichzeitig auf dich einhämmern.

Du erinnerst dich daran, wie du aus dem Unterricht geflogen bist. Immer wieder. An die Scham, es nicht zu schaffen. An die Blicke mancher Lehrer und Schüler. Sogar deine Eltern waren unzufrieden. Du passt da nicht rein. Du schaffst nicht, was alle anderen scheinbar mühelos können.

Du schämst dich auch für die Federtasche, die du nach der Lehrerin geworfen hast – obwohl du dich nicht daran erinnern kannst. Das haben dir deine Eltern erzählt. Und du fragst dich: Was stimmt nur nicht mit mir?

Egal. Das ist jetzt schon ein paar Jahre her. Du hast gelernt, irgendwie damit umzugehen. Ein Nebel ist über diese Erinnerungen gestiegen. Du kannst sie zurückhalten. Du wusstest ja auch, dass Hausaufgaben anstehen. Und diesmal ist es Mathe. Das kannst du. Du willst auch etwas lernen und es deinen Eltern recht machen.

Du setzt dich hin, schlägst den Hefter auf, liest die Aufgabe. Aber vielleicht überliest du ein Wort. Du verstehst die Aufgabe nicht.

Warum verstehe ich diese Aufgabe nicht? Warum nur nicht?

Der Nebel verzieht sich. Die Schrecken der Vergangenheit holen dich ein. Sie sind für dich so real wie damals. Dein Herz beginnt zu rasen, Schweiß tritt auf deine Stirn. Du hast Angst.

Du willst weg. Einfach nur weg – von diesen Aufgaben, von dieser Erinnerung. Deine Nerven schlagen Alarm. Dein Körper schreit: Gefahr!

Doch dein Vater sagt: „Mach deine Aufgaben.“ Warum versteht er nicht, dass du gerade bedroht wirst?

Du kannst nicht weg. Also musst du die Aufgabe zerstören, um dich zu schützen. Vor den Geistern der Vergangenheit. Vor dem Gefühl, nichts wert zu sein. Vor der Angst, die du schon tausendmal gespürt hast.

Du zerreißt das Blatt. Die Gefahr ist gebannt. Dein Puls beruhigt sich.

Zum Glück ist dein Vater diesmal nicht wütend. Er hat gelernt, er versteht dich besser. Ihr hört auf, Aufgaben zu machen. Zurück ins Spiel. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal.


Zurück in meiner Perspektive als Vater

Wie soll man funktionieren, wenn man Angst hat? Wie soll man klar denken, ja rechnen können, wenn in einem alles laut in Panik schreit?

Ich hoffe, ich konnte zeigen, wie ich auf meine Weise ein kleines Stück besser verstanden habe, welche Rolle Angst bei meinem Kind spielt.


Ein Blick auf das Nervensystem und die Erinnerung

Die Forschung zeigt, dass das Nervensystem bei autistischen Menschen oft anders arbeitet. Besonders deutlich wird das bei der sogenannten Stressreaktion: Unser Körper verfügt über das autonome Nervensystem, das zwischen „Ruhemodus“ (Parasympathikus) und „Alarmmodus“ (Sympathikus) hin- und herschaltet. Bei autistischen Kindern springt dieses System schneller und intensiver in den Alarmzustand. Geräusche, Licht, soziale Situationen oder Leistungsdruck können ausreichen, um eine Reaktion auszulösen, die dem Körper signalisiert: „Gefahr.“ Herzschlag, Schweißproduktion und Muskelanspannung steigen – das klare Denken wird blockiert.

Neurowissenschaftliche Studien legen zudem nahe, dass das Gedächtnis bei autistischen Menschen Erinnerungen anders verarbeitet. Belastende Erlebnisse, besonders wenn sie mit Scham oder Angst verknüpft sind, verblassen weniger schnell. Die Amygdala, ein Bereich im Gehirn, der stark mit Angst- und Bedrohungsverarbeitung verbunden ist, zeigt bei Autisten oft eine erhöhte Aktivität. Das kann dazu führen, dass eine aktuelle Situation – wie eine schwierige Matheaufgabe – alte, emotional aufgeladene Erfahrungen wieder so lebendig macht, als würden sie in diesem Moment erneut passieren.

Wenn sich also ein Kind bei den Hausaufgaben plötzlich in Panik wiederfindet, hat das nichts mit „Unwillen“ oder „Widerspenstigkeit“ zu tun. Es ist vielmehr die Folge einer echten, körperlich messbaren Stressreaktion, die durch das Nervensystem gesteuert und durch lebendige Erinnerungen verstärkt wird. Erst wenn dieses System wieder in den Ruhemodus zurückfindet, kann Lernen überhaupt möglich sein.

Wissenschaftliche Quellen zum Thema Angst, Gedächtnis und Autismus

Titel / QuelleWorauf fokussiert die Studie / BefundWarum relevant für deinen Artikel
Amygdala changes in autistic individuals linked to anxiety (UC Davis, MIND Institute, 2022) UC Davis HealthUntersucht, wie sich die Amygdala in autistischen Kindern über die Zeit entwickelt, und wie diese Veränderungen mit Angst zusammenhängen. UC Davis HealthGut passend, um zu zeigen, dass Angst nicht nur „gefühlt“ wird, sondern dass im Gehirn messbare Veränderungen existieren.
Stress System Activation in Children and Adolescents With Autism Spectrum Disorder (Makris et al., 2022) PMCZeigt, dass bei Kindern und Jugendlichen mit Autismus das Stresssystem (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse / ANS) anders aktiviert ist. PMCUnterstützt deine Idee, dass das autistische Nervensystem empfindlicher auf Stress reagiert – z. B. Aufgaben, Geräusche etc.
Children with autism have broad memory difficulties (Stanford Medicine, 2023) Stanford MedicineUntersucht Gedächtnisleistungen von Kindern mit autism – nicht nur für soziale Inhalte (z. B. Gesichter), sondern auch für andere Arten von Erinnerung. Stanford MedicineHilft, die These zu stützen, dass Erinnerungen weniger verblassen und vielfältiger betroffen sind – nicht nur in sozialem Kontext.
Altered behavioral and amygdala habituation in high-functioning autism (Tam et al., 2017) NatureBeschäftigt sich mit der Gewöhnung (Habituation) an wiederholte Reize – autistische Erwachsene zeigen geringere Habituation in der Amygdala als Nicht-Autisten. NaturePasst zu deiner Beschreibung, dass Geräusche, Licht etc. nicht gleich weniger stören mit der Zeit, sondern häufig immer noch als belastend wirken.
The Role of Cumulative Trauma and Memory Deficits (Rumball et al., 2021) ScienceDirectSchaut darauf, wie kumulative traumatische Erfahrungen mit Gedächtnisproblemen bei Autismus verknüpft sind. ScienceDirectWichtig, um zu zeigen, dass viele kleine oder große unangenehme Erfahrungen sich aufsummieren können und Gedächtnis sowie Angst längerfristig beeinflussen.
Association of Amygdala Development With Different Types of Anxiety in Autism (DS Andrews et al., 2022) biologicalpsychiatryjournal.com+2thetransmitter.org+2Beschreibt, wie bei autistischen Kindern verschiedene Arten von Angst (klassische Angst vs. spezifisch autistische Ängste) mit unterschiedlichen Entwicklungen der Amygdala verbunden sind. biologicalpsychiatryjournal.com+1Gut zur Differenzierung – es zeigt, dass nicht alle Angst gleich sind und dass „Angst“ in Autismus unterschiedliche Ursachen und Ausdrucksformen haben kann.

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